Grosse Herzlichkeit trotz grosser Armut

Grosse Herzlichkeit trotz grosser Armut

Yenangyaung – Als ich den Namen der Stadt nenne, schaut mich die Angestellte des Busunternehmens skeptisch an. Weniger, weil ich ihn falsch ausspreche, wohl eher, weil sich kaum ein Tourist nach Yenangyaung verirrt. Die Stadt liegt südlich von Bagan am Ayeryawadi (Irrawaddy). Sie gehört definitiv nicht zu den Touristenhotspots wie Bagan und der Inle-See und genau deshalb will ich dahin. Ich bin auf der Suche nach dem authentischen burmesischen Leben und nach Kontakt zu Bewohnern, die keine Souvenirverkäufer oder TukTuk-Fahrer sind.

Schon die Busfahrt nach Yenangyaung ist ein Erlebnis. Ich bin die einzige Nicht-Burmesin im Minivan, der bis auf den letzten Platz und noch darüber hinaus gefüllt wird: Zwischen die Sitze werden Holzhocker ohne Lehne gequetscht und dann auch als Sitzplätze verkauft. Auf einem Holzhocker neben der Tür sitzt ein Mitarbeiter des Busunternehmens, der in jedem Dorf zum Hupkonzert des Fahrers aus dem Fenster schreit, wohin der Bus fährt. Fast alle männlichen Fahrgäste kauen auf den Betelpriemen und spucken den roten Saft ab und zu in Plastiksäcke. Sogar der Fahrer kaut auf einem Priem. In Yenangyaung weiss der Mann an der Bushaltestelle bereits, wohin ich will. Denn hier gibt es nur ein einziges Guesthouse: Das Lei Thar Gone Guesthouse, das von der Schweizerin Therese Hubler geführt wird. Hier werde ich die nächsten Tage wohnen.

Gegründet wurde das Guesthouse von Eric Trutwein, der in Yenangyaung aufwuchs. Als er nach seiner Pensionierung wieder hierher zurückkam, fand er extreme Armut vor. Viele Kinder sind Waisen, sie verloren ihre Eltern durch die Infektionskrankheit AIDS. 13 von ihnen nahm Eric Trutwein bei sich auf, sorgte für sie und unterrichtete sie. Das war 2002 und es war der Beginn der Light of Love Private High School. Heute besuchen 180 Kinder von der Preschool bis zur 10. Klasse die Schule, viele von ihnen sind Voll- oder Halbwaisen und zahlen keine Schulgebühren. 2006 kam das Guesthouse dazu. Es ist für burmesische Verhältnisse nicht das günstigste, aber mit den Einnahmen wird die Schule unterstützt.

Die Einnahmen aus dem Guesthouse kommen der Schule zugute.

Die Armut ist auch heute noch rund um das Guesthouse sichtbar. Die Menschen leben in einfachen Bambushütten, meist lebt die ganze Familie in einem Zimmer. Trotzdem habe ich nirgends auf meiner Reise grössere Herzlichkeit und Freundlichkeit erlebt als auf den sandigen Wegen zwischen diesen Bambushütten. Die Kinder kommen angerannt, sobald sie mich entdecken. Sie nehmen mich an der Hand und führen mich zu einer Feuerstelle, an der drei Frauen Gemüse im Öl frittieren. Sie deuten mir an, mich hinzusetzen, als Stuhl dient ein einfacher Backstein. In der Nähe spielen junge Männer mit einem geflochtenen Ball und die Kinder haben Zigarrenstummel eingesammelt, die sie in den Sand stecken und mit Steinen möglichst viele umwerfen.

Im Dorf spielen die Männer nach Feierabend mit dem geflochtenen Ball.

Kurz nach 17 Uhr sagt eine Frau «Sunset» und deutet in die Richtung der Felder. Als ich zögere, steht sie auf und deutet mir an, mitzukommen. Am Rand eines Sonnenblumenfeldes sehe ich einen wunderschönen Sonnenuntergang. Sie und die Kinder pflücken Blumen und schenken sie mir.

Sonnenblumen zum Sonnenuntergang.

Die kommenden zwei Tage darf ich in der Schule mithelfen. Ich habe Spiele und Lieder auf Englisch vorbereitet. Die Kinder freuen sich über meinen Besuch, und die älteren Semester fragen mich mit bereits gelernten Fragen aus. Woher ich komme, wie ich heisse, wie alt ich bin, wie meine Geschwister, meine Eltern, meine Grosseltern heissen, was meine Lieblingsfarbe und was meine Leidenschaft ist. Als ich sie nach ihren Leidenschaften und Berufswünschen frage, sagen viele Ingenieur, Arzt, Lehrer. Berufe, mit denen sie etwas verändern, verbessern können.

Englisch lernen mit einem Lied.
Die Kinder sind motiviert, Neues zu lernen.

Auch in der Englischstunde, der ich später am Tag noch beiwohnen darf, werden die Ideale der Schüler zum Thema. «Wenn du der Präsident Myanmars wärst, was würdest du ändern?», steht auf einem Zettel, den ein Mädchen bei einem Spiel aus dem Hut gezogen hat. Zuerst zögert sie. Kritische Gedanken zu äussern, ist sie sich nicht gewohnt. Doch dann formuliert sie ihre Wünsche: Sie würde Ärzte in die ländlichen Regionen schicken und die Strassen verbessern.

„Wärst du Myanmars Präsident, welche zwei Dinge würdest du machen?“

3 Gedanken zu „Grosse Herzlichkeit trotz grosser Armut

  1. Kompliment für deine Reiseberichte. Deine Art zu erzählen liest sich sehr angenehm. Du beobachtest sehr differenziert und informierst in einer angenehmen Leichtigkeit.
    Welcome back
    Kurt

    1. Liebe Mirjam
      Deine Reiseeindrücke sind nachhaltig auch bei mir!
      Die Kinder inmitten der Sonnenblumen erinnern an das Bild von Monet mit Mädchen im Sonnenblumenfeld!
      Mit wenig Geld lässt sich zufrieden leben -. es ist die Solidarität, welche glücklich macht.
      Ich wünsche Dir weiterhin spannende Erlebnisse!
      Maria

  2. Liebe Mirjam, ich freu mich mich immer von dir zu lesen und dich so auf deiner Reise zu „begleiten“.
    Pass weiterhin gut auf dich auf.
    Lg Tanja

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