San Juan Chamula: Wo Eier reinigen und die Todesstrafe noch gilt

San Juan Chamula: Wo Eier reinigen und die Todesstrafe noch gilt

Die Versuchung ist gross, in der Kirche von San Juan Chamula die Kamera einzuschalten und Fotos zu schiessen. Denn diese Kirche im Dorf etwas oberhalb von San Cristóbal de las Casas ist alles andere als gewöhnlich. Und ebenso ungewöhnlich sind die Regeln darin: Das Trägertop ist für einmal kein Problem, verboten sind Hüte, Sonnenbrillen und leider auch Fotos. Es sollen schon Touristen eine Nacht im Gefängnis verbracht haben, weil sie sich nicht daran gehalten haben. Deshalb gibt es kein Foto, das einen auf den Anblick des Kirchenschiffs vorbereitet und auch hier kann ich nur mit Worten schildern, was ich erlebt habe.

Als erstes nehme ich den Duft wahr, denn meine Augen brauchen eine Weile, bis sie sich ans Dämmerlicht gewöhnt haben. Es ist der Duft von Hunderten von Kerzen und er erinnert mich an die Adventszeit. Ich trete auf etwas Weiches und sehe, dass der Kirchenboden mit Kiefernnadeln belegt ist. Bänke gibt es keine. Überall knien Männer und Frauen in kleinen Gruppen hinter einer Unmenge Kerzen und murmeln Gebete, die ich nicht verstehen kann. Die indigene Bevölkerung in diesem Teil Chiapas’ spricht Tzotzil. Eine alte Frau hat drei Eier in ein Plastiksäcklein gesteckt und streicht damit über den Körber eines etwa zweijährigen Mädchens. Dazu murmelt sie Worte in Tzotzil. Dieses Ritual ist eine Reinigung, eine «Limpia», und soll den Körper von negativen Energien reinigen. Sie schlägt die drei Eier innerhalb der Tüte auf, aber nur so weit, dass die Schale einige Risse erhält, ohne dass das Eiweiss herausfliest. Dann spritzt sie Coca-Cola über die Kerzen: Das Getränk soll vor bösen Geistern schützen. Manchmal werden in der Kirche gar Hühner geschlachtet und dann ebenfalls für ein Reinigungsritual verwendet.

Entlang der Kirchenwände sind etliche Heiligenbilder aufgehängt, auch darunter brennen Kerzen. Jene am Boden zünden die Betenden für Fürbitten an, jene unter den Heiligenbildern sollen ihren Dank zum Ausdruck bringen. In San Juan Chamula hat sich eine Mischung aus Mayakult und Katholizismus (den die spanischen Eroberer hier einführten) entwickelt.

Um diese Kirche zu verstehen, sind erklärende Worte nötig. Ich erhalte sie in einer kurzen Führung von einem Guide in der traditionellen Tracht der Bewohner San Juan Chamulas: einem Poncho, gewoben aus Schaffell. Die Schafe werden dafür nicht geschlachtet, denn sie sind hier heilig. Mehrere Wochen hat seine Frau am Poncho gearbeitet. Es gibt sie in den natürlichen Farben der Schafe, entweder in Schwarz oder in Weiss.

Obwohl der Guide verheiratet ist, hat er in seinem Leben nicht viel Zärtlichkeit erfahren. Es ist in San Juan Chamula nicht üblich, sich zu umarmen oder zu küssen. Weder zwischen Eltern und Kindern noch zwischen Ehepartnern. Wenn ein Mann eine Frau heiraten möchte – oder ein Mädchen, denn hier wird mit etwa 14 Jahren geheiratet –, muss er mit einem Freund bei den Eltern seiner Angebeteten vorsprechen. Die Entscheidung liegt dann aber bei der Frau.

In San Juan Chamula herrschen eigene Regeln. Der Bürgermeister wird seit 80 Jahren von der PRI, der Partei der institutionalisierten Revolution, gestellt. «Letzte Woche war ein Einbrecher zum Tode verurteilt, aber er wurde begnadigt», erzählt der Guide. In San Juan Chamula entscheidet die Gemeinde über Leben und Tod von Verbrechern und es kommt tatsächlich immer noch vor, dass Leute durch den Strang hingerichtet werden. Der letzte Angeklagte hatte das Glück, einen Fürsprecher zu haben, der klarmachte, dass er unter Drogeneinfluss gestanden hatte. Statt ihn hinzurichten, wurde er aus der Gemeinde verbannt.

Ein beklemmendes Gefühl macht sich in mir breit. Ich bin froh, dass ich meine Kamera nicht ausgepackt habe und atme erleichtert auf, als ich wieder ins Sonnenlicht trete.

2 Gedanken zu „San Juan Chamula: Wo Eier reinigen und die Todesstrafe noch gilt

  1. Liebe Mirjam
    Herzlichen Dank für Deinen Bericht aus der Kirche San Juan Chamula.
    Du erlebst sehr viel auf Deiner Weltreise. Und diese Erfahrungen kann Dir niemand nehmen.
    Wir freuen uns auf Deine Rückkehr.
    Thomas

  2. Jede Kultur hat ihre Regeln. Aber, weshalb sind viele kleinere Gemeinschaften so weit entfernt von unserem heutigen Kulturverständnis? Haben Unterdrückung, Kolonisation Riten nicht ausrotten können?
    Da gäbe es noch viele andere Fragen?
    Liebe Mirjam, da wirst Du immer wieder konfrontiert mit unserem Kulturverständnis.
    Spannende Erlebnisse – wünsche Dir gute Verarbeitung so vieler Eindrücke!
    Maria

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