New Yorker Entdeckungen – Wie ich im Big Apple eine erstaunliche Stimme und meine Grosstante fand

New Yorker Entdeckungen – Wie ich im Big Apple eine erstaunliche Stimme und meine Grosstante fand

Der Broadway ist das Mekka für alle Musicalfans. Rund 30 Musicals können hier zeitgleich besucht werden – für mich das Paradies. Umso mehr freute ich mich, während meines New York Aufenthalts so viele Musicals wie möglich zu hören. Eines meiner Lieblingsmusical ist «Wicked». Es erzählt die Geschichte des Zauberers von Oz, aber aus der Perspektive der beiden Hexen Glinda und Elphaba. Schon in Zürich habe ich es gesehen und war etwas enttäuscht über den Tenor, der Fiyero spielte. Die hohen Töne waren etwa einen Viertelton zu tief.
Umso mehr freue ich mich, als ich die Lottery für «Wicked» gewinne, eine Verlosung, durch die das Ticket nur 30 Dollar kostet. Am Broadway, dachte ich, gibt es keine falschen Töne. Am Broadway ist die Musikwelt perfekt. Schliesslich singt hier nur die Creme de la Creme der Musicalszene. Doch als Jake Boyd in der Rolle des Fiyero zum berüchtigten hohen Ton ansetzt und ihn in der Beltstimme rauswürgt, anstatt in die Kopfstimme zu wechseln, stehen mir die Haare zu Berge. Ich kann es erst gar nicht glauben, aber sogar am Broadway singen Tenöre falsch.

Ich habe die Wicked-Verlosung gefunden.

Am nächsten Tag wage ich mich trotz winterlichen Temperaturen in den Central Park. Und hier höre ich sie: die wunderbarste Stimme. Nicht am Broadway in einem Musical, dessen Eintritt etwa 150 Dollar kostet. In einer Fussgängerunterführung steht Abraham Victor Boyd (derselbe Nachname kann nur ein Zufall sein) und singt begleitet von einem Klavier, das aus einem kleinen Lautsprecher ertönt, Balladen wie John Legends «All of me» oder Nat King Cole’s «Unforgettable». Unvergesslich – seine Stimme bleibt in Erinnerung.

Der Centralpark ist auch im Winter einen Besuch wert.

Verwandschaftsfund im Archiv
Eine weitere Entdeckung mache ich wenige Tage später auf Ellis Island. Es ist die Insel, die im Hudson River liegt und durch die alle Drittklasspassagiere geschleust wurden, wenn sie in die USA einwandern wollten. Zwischen 1892 und 1954 wurden hier etwa zwölf Millionen Einwanderer kontrolliert, bevor sie offiziell an Land gehen und New York City betreten durften. Heute ist die Insel ein Museum, in dem der Besucher denselben Prozess durchläuft wie damals die Immigranten. Zuerst kommt man in einer grossen Halle an. Hier mussten alle Einwanderer ihr Gepäck – oft das einzige Hab und Gut, das sie besassen – deponieren und die Treppe in den Saal im ersten Stock hochgehen. Bereits auf der Treppe wurden sie von Ärzten beobachtet und wenn etwas auffiel, wurden ihre Mäntel mit Kreide markiert, was bedeutete, dass ein Arzt sie später noch genauer unter die Lupe nehmen würde. Ein E stand beispielsweise für Auge (englisch Eye). Ein Arzt hob mit einem Stiefelknüpfer, der eigentlich dafür gedacht war, Stiefel zu schnüren, das Augenlid der betroffenen Person, um sie auf Trachom zu untersuchen, eine hochansteckende Augenkrankheit, die zur Erblindung führte.

Die grosse Abfertigungshalle auf Ellis Island war früher voller Bänke für die Wartenden.
Ein Arzt untersucht die Augen einer Frau mit einem Stiefelknüpfer.

Das Museum schildert auf sehr eindrückliche Weise den gesamten Prozess, von der ärztlichen Untersuchung, über den Intelligenztest, zur rechtlichen Prüfung der Einwanderer. Fotografien, Originalgegenstände und Interviews mit Immigranten veranschaulichen den Prozess. «Meine Schwester hatte eine Markierung auf einem Mantel. Aber wir wollten nicht getrennt werden. Es wäre unmöglich für sie gewesen, zurück in die Heimat zu müssen. Da sagte uns ein netter Beamter, wir sollen einfach den Mantel umdrehen und die Futterseite aussen tragen. Und das taten wir», erzählt eine Frau, die hier Anfang des 20. Jahrhunderts angekommen ist. Für viele war Ellis Island das Tor zu ihrem neuen Leben. Eine Insel der Hoffnung. Aber für etwa zwei Prozent aller Einwanderer hiess es Endstation. Rund 250’000 Menschen wurden zurückgeschickt in die Heimat, in die Armut, manche in den Tod. Einige waren so verzweifelt, dass sie auf der Rückfahrt mit dem Schiff über Bord sprangen.

Eine der Immigrantinnen, die in den USA ein neues Leben begann, war meine Grosstante. Die Schwester meiner Grossmutter wanderte zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg von Deutschland in die USA aus. Zuerst lebte sie in New York, wo sie wohl arbeitete, aber später heiratete sie einen Amerikaner und lebte in Boston. Es gibt ein digitales Archiv, in dem seine Vorfahren suchen kann. Jeder der zwischen 1892 und 1954 eingewandert ist, ist im Archiv aufgeführt. Unter diesem Link könnt ihr nach euren Vorfahren suchen, die vielleicht in die USA eingewandert sind, um die Armut in Europa hinter sich zu lassen.

2 Gedanken zu „New Yorker Entdeckungen – Wie ich im Big Apple eine erstaunliche Stimme und meine Grosstante fand

  1. Von Thomas
    Grüezi Mirjam
    Deine Berichte sind sehr spannend und der über New York leider viel zu kurz.
    Manchmal komme ich auch nicht dazu, Deine Berichte sofort zu lesen oder zu kommentieren, da vieles Andere los ist.
    Wann kommst Du zurück in die Heimat? Du meldest Dich dann, damit wir Dich zum Essen einladen können.
    Mach’s guet.
    Thomas&Brigitta

  2. Liebe Mirjam
    da offenbarst Du Deine musikalische Feinfühligkeit – oder war es doch ein Missgriff in der Tenorstimme?
    Vielleicht sind Musicals eher für weniger empfindsame Ohren geeignet? Das würde in der Oper nicht akzeptiert!
    Nun hoffe ich, dass Deine Ohren wieder vermehrt zu einem angenehmen Hörerlebnis kommen werden!
    Ja, die Einwanderung ist ein höchst spannendes Kapitel in der Geschichte der USA – verbunden mit den Herkunftsverhältnissen vieler Menschen!
    Du wirst diese Erlebnisse hoffentlich noch in einem Buch vertiefen?
    Danke für all Deine spannenden Beiträge.
    Wünsche Dir Glück in Mexico!
    Maria

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