Flüchtlings-Watching – Wo Not zur Touristenattraktion gemacht wird

Flüchtlings-Watching – Wo Not zur Touristenattraktion gemacht wird

Sieben Tage die Woche steht Maja Onetanee hinter ihrem Stand im traditionellen Karendorf und preist den Touristen Souvenirs an. Sie ist auf gaffende und fotografierende Besucher angewiesen – es ist ihre einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Denn das Dorf ist eigentlich ein Flüchtlingscamp und Maja Onetanee darf es nicht verlassen.

«To see the longnecks», steht auf einem handgeschriebenen Wegweiser. Daneben zeigt eine Zeichnung eine der Langhals-Frauen mit Messingringen um den Hals. Rund um Chiang Mai in Nordthailand werden Touristenausflüge zu den traditionellen Dörfern des Karenvolkes angeboten, so auch in Mae Hong Son, das in den Bergen nahe der burmesischen Grenze liegt. Eines dieser Dörfer ist Huay Seau Thao. Es ist das bekannteste, das von Mae Hong Son aus erreicht werden kann. Aber die Busse kommen auch von weiter her, gar aus Bangkok, das knapp 900 Kilometer entfernt liegt. Ich war unschlüssig, ob ich mit meinem gemieteten Roller ins Dorf fahren sollte. Nach einer vorgängigen Recherche siegte aber die journalistische Neugierde.

Wie ein menschlicher Zoo
In Huay Seau Thao zahlen die Besucher 250 Baht (8.25 Franken) Eintritt, um die Langhals-Frauen zu sehen. Es fühlt sich an, als würde ich eine Eintrittskarte in den menschlichen Zoo kaufen. Dazu bekomme ich eine Kopie mit einer Kurzinformation in die Hand gedrückt. Sie sagt, dass das Geld verwendet wird, um die Familien zu unterstützen. Das «traditionelle Dorf» besteht dann aus einer Einkaufsgasse mit Ständen, an denen die Frauen mit den Messingringen um den Hals ihre Ware anbieten. Armringe aus demselben Metall, das die Hälse der Frauen streckt, Tannackapaste, Postkarten mit Fotografien der Frauen, Glochenmobiles, Schals und Armbändchen. Selbstgemacht sind nur die Messingarmreife, der Rest ist Billigware aus China. Es gibt auch aufgeschnittene Halsringe, die man sich probeweise selbst um den Hals legen kann, um zu erleben, wie sich die Langhalsfrauen täglich fühlen. Sobald Touristen durch die Gasse kommen, legen die Frauen ihre Smartphones beiseite, auf denen sie Videoclips thailändischer Popsongs auf Youtube schauen und nehmen eine traditionelle Holzgitarre mit zwei Saiten oder einen Webstuhl zur Hand, damit sie authentischer aussehen.

Die Karenfrau im Flüchtlingsdorf verkauft neben der Tücher auch Schmuck und andere Souvenirs.

Im Flüchtlingscamp gefangen
Eine der Giraffenfrauen, wie man sie auch nennt, ist Maja Onetanee. Als sie elf Jahre alt war, ist sie mit ihrer Familie aus Myanmar vor der Militärjunta nach Nordthailand geflohen. Die Karen sind eine ethnische Minderheit in Myanmar, die zwischen 1984 und 1997 durch die burmesische Armee verfolgt, umgesiedelt und mussten Zwangsarbeit leisten. Zehntausende flohen wie Maja Onetanee nach Thailand, ohne Aussicht auf Rückkehr. Hier kamen sie in Flüchtlingscamps nahe der Grenze unter und leben heute noch hier – einige seit rund 30 Jahren.
Denn diese «traditionellen Dörfer» als die sie vermarktet werden sind in Wirklichkeit Flüchtlingscamps. «Ich darf das Dorf ohne eine Sondergenehmigung der Regierung nicht verlassen», erzählt Maja Onetanee. Sie habe sich mit ihrem Leben abgefunden, sagt sie. «Früher habe ich mich oft verzweifelt gefragt, warum ich hier nicht arbeiten darf und hier wie eine Gefangene lebe. Aber es geht mir besser, wenn ich es nicht hinterfrage.» Jeden Tag, sieben Tage die Woche, sitzt die junge Frau in ihrer traditionellen Tracht hinter ihrem Stand und wartet auf Touristen, wartet darauf, begafft und fotografiert zu werden. Den Flüchtlingen ist es nicht erlaubt, ausserhalb des Camps Arbeit zu suchen. «Von dem Eintrittsgeld bekomme ich 1500 Baht pro Monat. Das reicht nicht, um zu überleben», sagt sie. Dieser Betrag entspricht etwa 48 Franken. Deshalb ist Maja Onetanee darauf angewiesen, dass die Touristen kommen und ihr Souvenirs abkaufen. «Es ist gut, wenn die Touristen hier sind. Es ist meine einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen.»

Maja Onatanee wird sehr oft von Touristen fotografiert. Ich wollte eigentlich kein Bild machen, aber für den Artikel, um dieses Thema bekannter zu machen, fragte ich sie, ob sie einverstanden sei.

Am Ende der Strasse rennen zwei Mädchen zwischen den Ständen hin und her. Auch sie tragen bereits die Messingringe um die dünnen Hälse. Ihre Mutter hingegen, die hinter einem Stand steht und auf Touristen wartet, hat den Schmuck abgelegt. «Ich mag das nicht», sagt sie nur. Ihren Töchtern zwingt ihn jedoch auf, damit sie für die Touristen beliebte Fotosujets hergeben. Ich habe genug gesehen. Als ich zu Maja Onetanee zurückkehre, kommen nicht ihr, sondern mir die Tränen.

Rückkehr ist möglich, aber gefürchtet
In Thailand leben etwa 93’000 Flüchtlinge, die Maja Onetanees Schicksal teilen. Sie leben in neun provisorischen Lagern an der Grenze zu Myanmar, die für sie jedoch zum permanenten Zuhause geworden sind. Antrag auf Asyl oder eine thailändische Staatsbürgerschaft können sie nicht stellen. Thailand hat die Verträge der Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterschrieben. «Zudem kennt das Land keine generell anwendbare nationale Gesetzgebung für den Schutz von Flüchtlingen und Asylsuchenden», sagt Jennifer Harrison, Associate External Relations Officer der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR in Bangkok. Das Ziel der thailändischen Regierung sei, dass die Flüchtlinge freiwillig nach Myanmar zurückkehrten, was nach dem Waffenstillstand von 2012 zwischen der Karen National Union und der burmesischen Regierung theoretisch möglich wäre. «Seit 2016 sind etwa 1000 burmesische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückgekehrt», sagt Jennifer Harrison. UNHCR unterstützt das erleichterte Rückführungsprogramm der thailändischen und burmesischen Regierung. Die meisten Flüchtlinge stellen aber keinen Antrag auf Rückkehr, weil sie fürchten, dass ihr Leben in Myanmar nicht besser aussehen würde als im thailändischen Camp.

Im Camp geboren
Eines dieser Camps besteht bereits seit 30 Jahren. Nai Soi liegt etwas weiter nördlich von Huay Seau Thao und wird ebenfalls als Touristenattraktion verkauft, ist aber weniger bekannt. Die Anfahrt über einen holprigen Erdweg voller Steine könnte der Grund dafür sein. Das Camp liegt abgelegen, eine Barriere versperrt den Eingang, der Checkpoint ist verlassen. Touristen ist der Eintritt ins Camp nicht gestattet. Das Aushängeschild ist ein Dorf aus Bambushütten, die auf Stelzen stehen. In einer von ihnen lebt die 16-jährige Yamin, die eigentlich anders heisst, aber ihren richtigen Namen nicht veröffentlichen möchte. Ihre Eltern sind vor 25 Jahren nach Thailand geflohen, Yamin und ihre Schwester sind im Camp geboren. Gemeinsam mit den anderen Jugendlichen besucht sie die 9. Klasse der Karenschule im Dorf. Als ehemalige Lehrerin bin ich neugierig auf den Schulalltag und die Infrastruktur hier. Die Schule ist ein Haus aus Bambus mit offenen Fenstern. Die Jugendlichen lernen den Grund kennen, weshalb sie hier leben. In ihren Heften haben sie die englischen und thailändischen Begriffe für Bürgerkrieg, Militärregierung und Diktatur aufgeschrieben. In einer Woche müssen sie am Examen wissen, wie es in Myanmar zum Bürgerkrieg kam und warum die Karen verfolgt wurden.

Die 9. Klasse der Karen-Schule in Nai Soi.

Traumberuf bleibt wohl ein Traum
Mein Besuch interessiert sie aber weitaus mehr als die Geschichte. Sie fragen mich, wie alt ich bin, ob ich verheiratet bin und wieso ich alleine reise. Sie sprechen für ihr Alter und für die thailändischen Verhältnisse sehr gutes Englisch. Als ich erkläre, dass ich Lehrerin war, steht einer der Jungen auf und holt mir den Stuhl der Lehrerin, die momentan nicht anwesend ist. Sie bitten mich, ihnen etwas englische Grammatik beizubringen. Da ich nicht weiss, was sie schon alles können, frage ich sie stattdessen, was sie nach der Schule machen möchten. Zwei wollen Lehrer werden, einer Sänger und einer Politiker, um etwas verändern zu können. Yamin will Ärztin werden. Doch sie weiss, dass die Aussichten, diesen Traum zu verwirklichen, nicht gut stehen. Nach der 9. Klasse wird sie das College im Camp besuchen. Von einem Medizinstudium an der Universität in Chiang Mai kann sie als Flüchtling und ohne Geld nur träumen. Nach dem Unterricht geht sie zum Verkaufsstand der Familie, wo sie gemeinsam mit ihrer Mutter auf neue Touristen wartet.

Ein Teil des Artikels erschien am 30. Dezember in den Verbundzeitungen von CH-Media. Hier ist er zu lesen:

Ein Gedanke zu „Flüchtlings-Watching – Wo Not zur Touristenattraktion gemacht wird

  1. Liebe Mirjam
    eigentlich möchte ich nur meiner tiefen Betroffenheit Ausdruck verleihen – es ist schrecklich, wie sensationsgeil die Menschen sind. Lies von Simone Lappert : „Der Sprung“ und Du wirst Dich nicht wundern. Es sind verschiedene Gesellschaftsschichten, welch auf Sensationen angewiesen sind!!! Woher dieses Unvermögen ? Viele Fragen tauchen auf.
    Es tut mir für diese Menschen leid, dass sie die Seele irgendwann, irgendwie verkauft haben!
    Alles Gute fürs 2020 !

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